Vor kurzem erhielt ich eine Notiz, dass der
bekannte Wirtschaftsanalyst Meinhard Miegel sich von der Ökonomie ab- und nun der
schöneren Sphäre von Kunst, Kultur und Religion zuwenden würde. Jahre lang hatte
Miegel sein Renommee auf Zahlen begründet, die sein Institut, das „IWG Bonn“,
und später die „Denkwerkstatt Zukunft“ für ihn errechnete. Da ging es in erster
Linie um Demographie und deren Folgen für Renten, Beschäftigung und den
Wohlstand. Nun also würde es mit den Zahlen wohl eher zu Ende sein, die haben
in Religion und Kunst nichts zu suchen – dort geht es um eine Dimension, die
sich nicht quantifizieren lässt.
Ich weiß nicht, ob Meinhard Miegel sich an
großen Vorbildern orientierte, als er diesen qualitativen Sprung vollzog.
Blaise Pascal wäre da zu nennen, der ein begnadeter Mathematiker war, bevor er
sich der Religion zuwandte, und natürlich der große Isaac Newton, der
bekanntlich weit mehr Schriften esoterischen Inhalts verfasste als über Mathematik
und Physik. Aber auch der Physiker Friedrich von Weizsäcker schrieb schließlich
Bücher wie „Der Garten des Menschlichen“ und „Wege in der Gefahr“.
Tischrückende Nobelpreisträger
Am eindrucksvollsten ist aber, was Arthur
Köstler in den „Roots
of Coincidence“ über die „British Society for Psychical Research“ berichtete, wo es um die Erforschung paranormaler Phänomene geht,
also um jenen Bereich, den sich normalerweise jeder Wissenschaftler wie die Pest
vom Leibe hält, solange er um seinen guten Ruf fürchten muss. In dem
Jahrhundert zwischen 1882 bis 1971 gehörten diesem Verein nicht weniger als drei
Nobelpreisträger, zehn Mitglieder der Royal Society, ein Premierminister und
eine Galaxie hochrangiger Professoren an, die meisten von ihnen Physiker und
Philosophen. Bezeichnend war allerdings, dass diese Herren bei ihrem Eintritt
in den Psycho-Verein die Fünfziger meist überschritten hatten. Es waren Leute, deren
Ruf über jeden Zweifel erhaben war, die aber wie Dr. Faust an dem nagenden
Zweifel litten, dass die Wissenschaft, wie sie sie kannten und praktizierten,
niemals eine befriedigende Antwort auf die letzten Rätsel der Welt geben würde.
Das war der Grund für ihren Entschluss, sich dem Übersinnlichen zuzuwenden. Um
es etwas böse zu formulieren (denn natürlich war man durchaus überzeugt, immer
noch seriöse Wissenschaft zu betreiben): Mit Tischrücken und ähnlichen
Spielereien glaubte so mancher pensionierte Physikprofessor sich endlich jenen
tiefsten Geheimnissen des Daseins zu erschließen, die er in den Zahlen, die er
zuvor ein Leben lang studiert und gesammelt hatte, nicht länger zu finden hoffte.
Vom Wissen zur Weisheit – das war das eigentliche Motiv, das schon Faust seine
Suche beginnen ließ.
Die Schizophrenie unserer Zeit
Einerseits der Naturwissenschaftler in
seinem Labor, ein Muster an Seriosität - andererseits der heimlich oder auch
offen belächelte Professor als Geisterseher. Der Gegensatz scheint unüberbrückbar,
hat sich aber in dreihundert Jahren Geschichte eher verfestigt. Mit Zahlen und deren
praktischer Anwendung in der Technik macht man sich seit dem siebzehnten
Jahrhundert einen Namen. Nobelpreise, die höchsten Auszeichnungen unserer Zeit,
werden nicht für esoterisch-alchemistische Schriften vergeben, wie sie Newton
in großer Zahl verfasste, auch nicht für Weisheiten philosophischer oder
religiöser Prägung. Ihre höchsten Preise und größten materiellen Belohnungen
vergibt unsere Gesellschaft beinahe ausnahmslos für wissenschaftliche
Erkenntnisse im Bereich der technischen Daseinsbeherrschung. Wie es der große
amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith in einer Formel von unübertroffener
Eleganz und Einfachheit formulierte: If a man
seeks to design a better mousetrap he is the soul of enterprise; if he seeks to
design a better society he is a crackpot. Jemand, der eine bessere Mausefalle
ersinnt, hat den Sinn moderner Unternehmung erfasst. Wer sich um eine bessere
Gesellschaft bemüht, läuft Gefahr, als Spinner belächelt, unter Umständen sogar
als Verrückter verfemt zu werden. Kein Wunder, dass junge Leute sich dem Wissen
zuwenden – die Weisheit muss sich ins Alter flüchten.
Moralisches Gewissen und theoretisches Tun sauber getrennt
Und
die Schizophrenie reicht noch weiter. Unbekümmert um ihren Ruf dürfen jene, die
sich mit dem Wissen zufrieden geben, dieses an ihre jeweiligen Geldgeber
verkaufen. Es wird als durchaus normal akzeptiert, dass Forscher ihr Wissen und
Können für Projekte einsetzen, aus denen die kommenden Megabomben, die
schwersten Umweltgifte, die gefährlichsten Chemikalien entstehen. Von allen
daraus erwachsenden Folgen spricht die Gesellschaft sie von vornherein frei. Denn
hier gilt das Prinzip der Arbeitsteilung: Die Wissenschaftler sind ausschließlich
für die Theorie zuständig - was andere in der Praxis dann damit machen, braucht
und soll sie nicht kümmern. Das sei allein Sache der Auftraggeber.
Es ist eine
typisch moderne Schizophrenie, die den Menschen unserer Zeit sozusagen in der
Mitte zerteilt: sein moralisches Gewissen und sein theoretisches Tun wurden wie
mit dem Skalpell chirurgisch sauber voneinander getrennt.
Genau das
aber führt dazu, dass manche Menschen sich im Alter plötzlich die Augen reiben.
Hinterrücks werden selbst nüchterne Ökonomen wie Meinhard Miegel plötzlich von
der Frage nach dem Sinn überfallen. Sie gründen eine „Kulturelle Stiftung“,
sozusagen einen Alterssitz für das Denken, wo sie sich als Liebhaber mit Kunst, Kultur und Religion befassen statt im
politischen Auftrag die Statistiken der Ökonomie aufzufüllen, oder sie treten
als Nobelpreisträger einem Verein zur Erforschung paranormaler
Erscheinungen bei, oder sie legen das Physikbuch beiseite, um sich dem "Garten
des Menschlichen" zu widmen.
Deutschland hat sich schon einmal
abgeschafft
Nicht immer
war kontemplative Vernunft – die Suche nach Weisheit - so an den Rand gedrängt,
wie sie es heute ist. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts gab das sinnsuchende
Alter in der ersten Hälfte den Ton an, erst nach der Mitte des Jahrhunderts trat
jene Be-sinnungs-losigkeit ein, wie sie eher für die Jugend kennzeichnend ist. Die
große Zeit Deutschland erstreckte sich vom Ende des 18. bis in die erste Hälfte
des 19. Jahrhunderts. Damals wurden die existenziellen Fragen gestellt. Gegen
die angelsächsische Besessenheit von Profit und Handel sperrte sich Deutschland
damals ganz bewusst ab – auch gegen deren hässliche Folgeerscheinungen aus
rauchenden Schloten und einem in den neuen Fabriken zugrunde gerichteten Lumpenproletariat.
Bis in die Mitte des Jahrhunderts wurde in Deutschland gedacht und gedichtet.
Es war eine glückliche Zeit auf der Suche nach Weisheit oder mindestens ihrem
Stein.
Allerdings ging
sie ziemlich abrupt zu Ende, und zwar damals gegen 1855, als Ludwig Büchner
seinen Bestseller „Kraft und Stoff“ verfasste, in dem er seine Landsleute abkanzelte
und sie dazu aufrief, das völlig nutzlose Dichten und Denken doch endlich bleiben
zu lassen und sich den handfesten Dingen zuzuwenden, also der Technik, den Zahlen
und der Industrie, die in Großbritannien ihren Siegeszug längst begonnen
hatten.
Büchners Ruf
wurde erhört. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten hat sich das alte Deutschland,
das Deutschland Goethes und Herders, so gründlich abgeschafft, dass diese Zeit
der heutigen Jugend inzwischen nicht weniger fremd erscheint als – sagen wir –
die chinesische Tang-Dynastie. Interessant ist nur, dass das alte und neue
Deutschland immerhin eine kurze Zeit koexistierten, nämlich in Gestalt zweier
Brüder, die wohl kaum wesensfremder sein konnten. Der geniale Georg Büchner
verkörperte wie kein zweiter das dichtende, denkende Deutschland, das gerade
abgeschafft wurde. Sein Bruder Ludwig hingegen sah das kommende Deutschland
voraus.
Taugenichtse wurden zu
Unternehmern
In
den Händen Ludwig Büchners wurde die technisch-mechanistische Vision zu einem
Knüppel, womit er auf die in seinen Augen kindischen Träume der Philosophen
einschlug. Mit einiger Übertreibung darf man behaupten, dass das Deutschland
der Denker und Dichter damals über Nacht büchnerianisch wurde. Man rieb sich
die Augen und sah sich in einer anderen Wirklichkeit aufgewacht: Das war nicht
länger die geheimnisvoll-bunte Welt der beamteten Biedermänner und romantischen
Taugenichtse, nicht länger das Deutschland der kleinen verschlafenen Dörfer,
der Kirchtürme, Dorfteiche und der Brunnen vor dem Tore, sondern eine Welt der stampfenden
Fabriken und tüchtigen Unternehmer. Wenn Deutschland sich jemals „abgeschafft“
hat, dann damals, denn büchnerisch banal und maschinenhaft war jetzt die echte
Realität. Verglichen mit jenen bunten und fantastischen
Träumen, die man gerade hinter sich ließ, war sie farblos und nüchtern, aber
dafür verlässlich, vernünftig, berechenbar und – wie man damals noch glaubte –
jedenfalls wahr.
Wilhelm von Humboldt und die
Bildung der Vernunft
Gewiss, deutsche
Innerlichkeit gibt es auch heute noch, zum Beispiel in den Schrebergärten vor
den Toren der großen Städte, aber dort wird sie mit Bioziden zu Tode gespritzt.
Die große, unglaublich komplexe und unglaublich schöne Musik der Klassik, wo
sie ein wirkliches Refugium gefunden hatte, wird dagegen nur noch von einer zahlenmäßig
dahinschwindenden Schicht verstanden – unsere Zeit ist zu laut, zu
marktschreierisch für diese Nachklänge der Innerlichkeit. Dennoch wurde und
wird die Verabschiedung und Verbannung des besten Teils deutscher Vergangenheit
von vielen als säkularer Fortschritt gefeiert. Den romantischen Widerstand gegen
den Geist der neuen Zeit erklärte man nachträglich als „reaktionäre“ Tendenz.
Durchaus zu Recht, wenn man das Lebensziel des
Menschen in einer permanenten Revolution der materiellen Lebensgrundlagen
sieht, also in einem Fortschritt, der sich ganz und gar dem Gebot des
Nützlichen und Profitablen verschreibt. Wilhelm von Humboldt, ein Mann aus der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte noch eine ganz andere Erweiterung
menschlichen Wissens im Sinn. Die Vernunft sollte mündig werden, das Individuum
durch Bildung zur Selbstbestimmung finden. Das sollte eine Versöhnung von
Wissen und Weisheit sein. Seine Belohnung fand der Wissende in der
Kontemplation und der Ergötzung des Geistes.
Heute zählen die Mausefallen
Diese Einstellung
ist heute beinahe vollständig verschwunden. Allenfalls lebt sie in der so genannten
Populärwissenschaft fort, muss sich dort aber immer gegen den Widerstand von
Seiten der „seriösen“ Wissenschaftler behaupten, die ihr bestenfalls ein
herablassendes Lächeln gönnen. Ein Mann vom Rang eines Hoimar von Ditfurth hat es
wie wenig andere verstanden, seinen Zeitgenossen Ehrfurcht und Bewunderung für
die Leistungen der Naturwissenschaft einzuflößen. Niemand vermochte so
anschaulich wie er aufzuzeigen, wie Physik und Kosmologie die unauslotbare
Komplexität unserer Welt aufdecken. Ditfurth lehrte uns, wie Kinder darüber zu
staunen. Bei allem fachkundigen Wissen war das zugleich auch Philosophie,
Kontemplation, Frage nach dem Sinn – also Weisheit. Dennoch - oder vielleicht gerade deshalb - ist Hoimar
von Ditfurth, dieser großartig neugierige und auf seine Art selbständige Denker,
heute nahezu vergessen. Weisheit und Kontemplation sind nicht länger gefragt
ist. Dafür gibt es keine Preise. Hoimar von Ditfurth hat es versäumt, der Welt
nützliche Mausefallen oder etwas in dieser Art zu schenken.
Was keinen Profit abwirft ist
unzeitgemäß und verdächtig.
Dagegen eilt
das Wissen in Gestalt der technomorphen Intelligenz von einem Triumph zum
anderen, weil es sich widerstandslos vor den Karren des Kapitals spannen ließ (wobei
das Kapital sich seinerseits am Bedarf der Kunden ausrichtet). Mit dieser Sinn-Indifferenz
hat es sämtliche Lebensbereiche erobert. Schon im Kindergarten trainiert Homo
sapiens den Umgang mit ihrem vielfältigen Instrumentarium. Er begreift, dass
der Zweck seines Daseins darin besteht, derartige Instrumente in immer größerer
Zahl zu ersinnen, um damit eine Umwelt hervorzubringen, welche die natürliche
Natur am Ende vollständig durch eine künstliche, von ihm selbst geschaffene
ersetzt.
Und keineswegs
nur die äußere Natur. Die instrumentelle Vernunft ist im Begriff, den herkömmlichen
Menschen selbst umzuwandeln, ihn gegen einen neuen auszutauschen, den
technomorphen. Konrad Lorenz scheint diese Möglichkeit vorausgesehen zu haben,
als er für den Menschen eine eigengesteuerte Evolution annahm, der er die
Bezeichnung „Selbstdomestikation“ zuteilte. Homo sapiens sei im Begriff, seine
eigene Natur durch Selbstdomestikation umzuprogrammieren und abzurichten.
Von dem, was
einmal Weisheit hieß, scheinen wir uns auf diese Art immer weiter zu entfernen.
Alles, was die kontemplative Vernunft einmal in die Mitte des Daseins stellte:
interesselose Erkenntnis, Freude an Schönheit und Kunst, Reflektion über den
Sinn des Daseins wird es zwar weiterhin geben – nur eben weit abgedrängt an den
Rand der Gesellschaft. Weil man keinen Profit damit macht, wird die Sache als
bedeutungslos abgestempelt. Nur Leute, die wie Meinhard Miegel in Rente gehen, oder
in die Society for Psychic Research oder andere ähnlich exotische Institutionen,
werden sich dafür noch interessieren.
Wenn es dabei nur um
persönliche Vorlieben ginge!
In
Wirklichkeit geht es um sehr viel mehr, nämlich um die Auswirkung dieser
Umprogrammierung und Selbstabrichtung auf das künftige Schicksal des Globus. Die
instrumentelle Vernunft kennt kein übergeordnetes Ziel. Da sie sich in
vollständiger Abhängigkeit von einem allmächtigen Markt und seinen Herrscher-Sklaven,
den Investoren, befindet, ist es der private Profit, dem sich Wissen und Können
eilfertig unterwerfen. Die Erfinder von Landminen werden für ihre Forschung
genauso belohnt wie die Erfinder von Apparaten zur Entschärfung dieser Minen;
die Erforscher neuer künstlicher Materialien genauso wie jene Wissenschaftler,
welche nach Lösungen im Kampf mit der Plastikpest in den Ozeanen suchen; die
Forscher, welche mit ihren Erfindungen den Klimawandel forcieren, genauso wie
jene, welche sich dem Kampf dagegen verschreiben.
Die
technomorphe Intelligenz unterscheidet sich radikal von dem, was man früher
einmal als Weisheit bezeichnet hat, weil sie ihre Entscheidungen prinzipiell
punktuell ohne Blick auf das Ganze trifft. Immer sind es ganz konkrete private
Geldgeber und deren Interessen, von denen sie ihre Befehle empfängt - das
Wohlergehen der Menschheit als ganzer gerät da nie in den Blick.
Das Apfelbäumchen
Diese Gleichgültigkeit
gegen das Wohl des Ganzen ist das Menetekel unseres Jahrhunderts, vielleicht
sogar das Urteil, das sie über Sein oder Nichtsein fällt. Die geistigen Entwürfe der großen Philosophen,
Künstler und religiösen Führer haben das Überleben der Menschheit zwar materiell
nie gehoben, es aber auch nicht gefährdet. Die technomorphe Intelligenz, die
ihrem Wesen nach eine permanente Revolution, also eine ständige Umwälzung der
materiellen Lebensbedingungen bewirkt, stellt uns aber genau vor diese
Perspektive. In seinem letzten Buch „So lasst uns denn ein Apfelbäumchen
pflanzen“ hatte Hoimar von Ditfurth seine Leser nicht länger das Staunen
gelehrt, sondern das Schaudern. Das Ende unseres explosionsartig angewachsenen
Wissens und Könnens könnte darin bestehen, dass unsere Art sich selbst von der
Erde tilgt. Die kontemplative Vernunft hatte das Ganze vor Augen. Menschliches
Handeln befragte sie stets nach seinem Sinn für die allgemeinmenschliche
Zukunft. Diese Vernunft wurde in unserer Zeit durch eine Intelligenz abgelöst, die mit Scheuklappen blind in die Zukunft rennt. Jede neue Erfindung,
die sich erfolgreich vermarkten lässt, löst Triumphgeheul aus, ganz gleich ob
der aus ihr erwachsende Machtzuwachs der Zerstörung oder dem Wohl des Globus
dient.
Hat die
kontemplative Vernunft, hat die Aussicht auf eine bessere Gesellschaft noch
eine Chance in einer Zeit, deren vertausendfachte Intelligenz sich in einer Art
globaler Obsession einzig der Perfektion von Mausefallen verschreibt? Ist
Weisheit vielleicht längst pensioniert und steht kurz vor dem Ableben?
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